pdf Ein Gesetz trifft auf die Realität
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Quasi morgen greift ein Rechtsanspruch und irgendwie scheint nichts vorbereitet zu sein. Gehen wir alle baden?
Ein Beitrag von Sebastian Kölsch
Im Herbst 2021 wurde in Berlin final verabschiedet, was ab dem Schuljahr 2026/27 bundesweit greifen wird: ein Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung für Kinder im grundschulalter. Aufwachsend ab Klasse 1, also ab dem Schuljahr 2029/30 für alle Kinder an Grundschulen und in SBBZ-Grundstufen. Was nüchtern klingt und worauf sich Eltern freuen, treibt manchen Verantwortlichen zu Gefühlen zwischen Sorge und Wut ...
Die Ruhe vor dem Sturm
„Ich wundere mich, wie ruhig die Eltern sind“, sagt Thomas Rauschenbach, Wissenschaftler, ehemaliger Direktor des Deutschen Jugendinstituts und ausgewiesener Ganztags-Experte. Seiner Ansicht nach wurde hier etwa politisch gewollt und versprochen, was gar nicht erfüllbar ist – jedenfalls nicht in so kurzer Zeit und unter den gegebenen Umständen. Vor allem der Fachkräftemangel und – zumindest in Baden- Württemberg – unglaublicher Nachholbedarf an „echten“ Ganztagsschulen dürften das ambitionierte Gesetzesvorhaben gehörig unter Druck setzen.
Bettina Dickes, Landrätin aus Rheinland-Pfalz, hat die Sorgen derjenigen artikuliert, die den in Berlin ausgehandelten Deal umsetzen sollen: „Ich habe weder das Geld, noch irgendeine Form von Personal“, stellte sie einigermaßen konsterniert bei Markus Lanz im ZDF fest. Dabei sei sie sich im Klaren: „Die Eltern werden das einfordern, werden frustriert sein.“ Von der Ferienbetreuung wisse sie noch gar nicht, wie sie sie umsetzen solle.
Wie konnte es dazu kommen?
Die Weichen für den nun kommenden Rechtsanspruch wurden bereits 1996 gestellt. Seit damals gilt der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für 3- bis 6-jährige Kinder. 2013 kam dann der Rechtsanspruch für 1- bis 3-jährige Kinder dazu. Nun also wird nach oben erweitert und sukzessive die Kinder im Grundschulalter in den Rechtsanspruch aufgenommen.
Und das, obwohl selbst die 2013 versprochenen Plätze nicht gesichert sind und es zu viele Kinder oder zu wenige Erziehungskräfte gibt – je nach Betrachtungsweise. Verkürzte Betreuungszeiten, Gruppenschließungen, Wartezeiten trotz Rechtsanspruch: Eltern von kleineren Kindern können ein Lied davon singen. Meist auch mehrere...
Schon im März 2023 hatten 19 Bürgermeister aus Südbaden eine Art Hilferuf an Ministerpräsident Winfried Kretschmann geschickt. Der Kita- Rechtsanspruch sei nicht mehr zu erfüllen. Der Emmendinger Oberbürgermeister Stefan Schlatterer, Initiator des Briefes, spannte den Bogen von der akuten Kita-Not zum 2026 beginnenden Rechtsanspruch in der Grundschule und meinte: „Wir laufen sehenden Auges vor die Wand.“ Gemeinsam hatten die kommunalen Chefs zwei Vorschläge formuliert: Entweder der Rechtsanspruch werde unter Vorbehalt gestellt oder die Standards müssten gesenkt werden. Zumindest letzteres hätte aber bei dem schulischen Rechtsanspruch keinerlei Auswirkungen, da die hohen Qualitätsstandards aus dem Kitabereich für Schulkinder in kommunaler Ergänzungsbetreuung oder auch in Ganztagsschule sowieso nicht gelten – lediglich im Hort, und den gibt es am seltensten.
Wie man also ernsthaft auf die Idee kommen konnte, nach den Erfahrungen eines über zehn Jahre alten, immer noch unerfüllten Rechtsanspruchs nun einen weiteren zu verkünden und mit nur fünf Jahren Planungsvorlauf alle Verantwortung nach unten abzuwälzen, ist auch Experten ein Rätsel. Der einzige Grund, der einleuchtend erscheint: Für Eltern ist eine gesicherte ganztägige Betreuung oftmals existentiell.
Nöte der Eltern
Raban Kluger kann diese Vermutung bestätigen. Drei Jahre lang war er Vorsitzender des Freiburger Gesamtelternbeirats Schulen. „Trotz außerordentlich guter kommunaler Schulkindbetreuung in Freiburg haben wir seit Jahren regelmäßig Engpässe zum Schuljahresbeginn.“ Eltern fielen teilweise aus allen Wolken, wenn sie aus dem Rechtsanspruch in der Kindergartenzeit an die Grundschule kämen und sich ganz neu organisieren müssten. „Lisa kommt in die Schule – kostet das einen Job?“ überschrieb der Gesamtelternbeirat bereits im Juli 2022 einen seiner Blogartikel, der auf die fehlenden Betreuungsplätze aufmerksam machen sollte. In einem Parforce-Ritt genehmigte der Gemeinderat damals die notwendigen Stellen, und die größte Not konnte relativ bald nach Schuljahresbeginn gelindert werden. Aber ein Jahr später war es wieder soweit – diesmal waren die Stellen zwar vorhanden, aber die Kräfte nicht. „Für die Eltern ist die Auswirkung zwar dieselbe, aber die Ursache war nun systemisch und nicht mehr hausgemacht“, erklärt Kluger das verschobene Problem. Besonders problematisch für den damaligen GEB-Vorsitzenden: die Nöte der Eltern gebündelt an den Schulträger zu kommunizieren und gleichzeitig die Eltern daran zu erinnern, dass alles, was hier getan wird, eine freiwillige Leistung der Stadt ist. Zumindest bis 2026/27.
Nöte der Schulträger
Die Seite der Kommunen kennt Ulrike Glöckner gut. Mit ihrem Unternehmen „impulse akademie“ begleitet sie Kommunen auf dem Weg in den Rechtsanspruch auf ganztägige Betreuung. Dabei ist es ihr wichtig, dass diese Beratung ergebnisoff en ist. „Der Rechtsanspruch kann befriedigt werden durch Horte, kommunale Betreuungsangebote im schulischen Kontext oder Ganztagsschulen“, macht sie klar. Dabei scheint es, als ob sich nahezu alle bereits auf die kommunale Schulkindbetreuung oder die Ganztagsschule festgelegt haben. Der Grund hierfür ist Glöckner klar: „Horte sind qualitativ so hochwertig, dass Bau und Unterhalt in der Fläche schlicht zu teuer sind“, erläutert sie; viele Kommunen gingen daher eher weg von Horten und versuchen die anderen beiden Optionen zu verfolgen. Ganztags-Forscher Rauschenbach sieht diese Entwicklung kritisch, da nur Horte betriebserlaubnispflichtig seien, die von Kommune zu Kommune komplett unterschiedlich konzipierten Betreuungsangebote aber nicht – was schlussendlich eine Auswirkung auf die Qualität habe. „Es wird die Qualität sein, die Eltern davon überzeugt, das durch den Rechtsanspruch versprochene Angebot auch wahrzunehmen“, ist Rauschenbach sich sicher, und für die Kinder sei es ohnehin besser, wenn nicht nur Betreuung wie im Gesetzestitel, sondern der Bildungsaspekt im Vordergrund stünde. „Eltern müssen überzeugt sein, dass der Ganztag ihrem Kind Horizonte öffnet, die es nur im privaten Kontext nicht erhalten könne. Beraterin Glöckner hofft auf einen Wechsel in der Wahrnehmung des Bildungsbegriffs: „Bildung wird noch viel zu häufig mit Wissensvermittlung gleichgesetzt. Dabei ist es auch und vor allem Beziehungsbildung.“
Nöte der Schulen
Das Kultusministerium hat so etwas wie den Lead auf Landesebene bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs übernommen, obwohl dieser eigentlich Teil der Sozialgesetzgebung ist und daher zwischen Sozialministerium und Landkreisen bzw. Kommunen ausbaldowert werden müsste. Doch durch die teureren und in der Planung viel langwierigeren Hort-Lösungen sind die Grundschulen und SBBZ-Grundstufen im Fokus der Rechtsanspruch-Umsetzung. Sowohl in der Kombination Halbtagsschule plus kommunale Ergänzungsbetreuung als auch in der Form als Ganztagsschule werden Schulen die Hauptlast der Rechtsanspruchs-Abdeckung tragen müssen.
Die Änderung des Schulgesetzes, durch die Kommunen nun auch ohne Zustimmung der Schulkonferenz eine Ganztagsschule einrichten können, war ein erster Schritt in diese Richtung. Dass nun im Start-Chancen-Paket die Grundschulen, die in den Genuss der besonderen Förderung kommen, diese nur unter der Bedingung der Umwandlung in eine Ganztagsschule erhalten, ist ein weiterer Schritt.
„Baden-Württemberg ist bemerkensweit hinten dran, was den Ausbau der Ganztagsschulen anbelangt“, bestätigt Professor Rauschenbach. Während im Bundesschnitt über zwei Drittel der Grundschulen Ganztagsschulen sind, sind es in Baden-Württemberg weniger als ein Drittel.
Die, die es bereits sind, sind sowohl begeistert, als auch am Anschlag. Christine Schumann, Rektorin an der Schlößlesfeldschule Ludwigsburg und eine Ganztagsschul-Pionierin in der Stadt, schwärmt von leuchtenden Augen, Lachen auf den Fluren und überhaupt von aufblühenden Kindern. Aber sie sagt auch, dass Ganztag im Alltag extrem komplex zu planen sei und sie als Schulleitung Dinge tun müsse, die nur über „learning by doing“ möglich seien.
„Ganztag muss dein Hobby sein, sonst wird es nicht gut“, ist Johannes Schubert überzeugt. Er leitet mit dem Adolf-Reichwein-Bildungshaus Freiburgs größte Grundschule. Er berichtet von Ganztags-Koordinationsstellen und kommunalen Zuschüssen zu Landesgeldern für den Ganztagsbetrieb. „Da habe ich mit meinem Schulträger großes Glück“, weiß Schubert. Aber ohne gehe es auch nicht wirklich gut; schon die 100 Mitarbeitergespräche fordern einen gewöhnlichen Grundschulrektor in einem Maße, das man mit Entlastungsstunden gar nicht auffangen könne. Christine Schumann kämpft sich derweil nahezu alleine durch Verträge und Vorschriften, Ausschreibungen und, und, und. Dinge, auf die man nicht vorbereitet wird, zumindest nicht standardmäßig.
„Ganztag findet noch heute in der Lehrkräfteausbildung einfach nicht statt“, weiß Thomas Rauschenbach. Dies erkläre schlussendlich auch die vielen unterschiedlichen Ansätze und Konzepte, die landauf, landab im Einsatz seien. Es scheint fast so, als ob Ganztag – zumindest in Baden-Württemberg – immer noch in der Erprobung ist und überall ausprobiert wird, was das Zeug hält. Das liegt einerseits an noch fehlenden Qualitätsrichtlinien, andererseits an den enorm unterschiedlichen Rahmenbedingungen vor Ort. Hier die Kommune, die Ganztag als Herausforderung annimmt und innovative Schulleitungen unterstützt, dort der Schulträger, für den mangels eigener Ressourcen bereits die Mittagsverpflegung eine Herausforderung darstellt.
Dieser Flickenteppich ist auch das, was die im Ganztag Aktiven stört: Mittelfristig könne er sich eine Koexistenz von Halbtags- und Ganztagsschulen nicht wirklich vorstellen, meint Ganztags- Rektor Schubert. Auch für Rauschenbach wirft dies mehr Fragen auf, als dass es Antworten böte. „Wir wollen schließlich, dass Eltern ihre Kinder zu uns in den Ganztag bringen, weil sie vom Wert überzeugt sind – und nicht, weil sie es müssen“, stellt die Ludwigsburger Schulleiterin Schumann fest. Zumindest an ihrer und der Schule von Kollegen Schubert in Freiburg scheint das auch zu gelingen. Allerdings zum Preis einer Arbeitsbelastung, die ungleich höher ist als die anderer Schulleitungen im Halbtag. Auch darauf sollte die Schulverwaltung bald eine Antwort finden.
Rechtsanspruch als Demokratieversprechen
„Das Geld ist die eine Nummer“, bringt Landrätin Dickes die Dimension der Problematik auf den Punkt: „Das Vertrauen in den Staat geht völlig nach unten. Die Eltern erwarten es – zu Recht, denn die Politik hat es ja versprochen.“ Sie wisse aber heute schon, dass sie es nicht umsetzen könne – dabei wolle sie Versprechen des Staates an die Bürger unbedingt umsetzen.
Vertrauen in die Politik wird zu Recht von ebendieser immer wieder eingefordert. Verlässlicher Partner zu sein und auch in komplexen föderalen Strukturen erfüllbare Politik zu gestalten könnte ein guter Anfang sein, um der Erwartung auch das passende Angebot gegenüber zu stellen. Auch ohne dass eine Landrätin aus Bad Kreuznach darauf hinweist.