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pdf Ein Detail, das so gar nicht stimmig ist

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Dem Gymnasium wird nicht nur sein neuntes Schuljahr zurückgegeben, sondern gleich eine neue Definition verpasst. Warum?

Ein Beitrag von Sebastian Kölsch

Man muss schon einen großen Fetisch für trockene Gesetzestexte haben und Zeit mitbringen, viel Zeit. Nur dann nämlich hat man die Chance, sich durch den kurz vor den Sommerferien vorgelegten Entwurf des „Gesetzes zur Änderung des Schulgesetzes“ durchzuwursteln.

Und wenn man dann alle Details durchgeackert hat, von denen man wusste, dass sie kommen, nur das „wie“ noch interessant ist, könnte man die ein oder andere Passage vielleicht überlesen. So wie Artikel 3, Nummer 4.

Definition des Gymnasiums

§ 8 des Schulgesetzes für Baden-Württemberg beschreibt die Aufgabe und grobe Gliederung der Schulart Gymnasium. Bisher steht hier in Absatz 1:

Das Gymnasium vermittelt Schülern mit entsprechenden Begabungen und Bildungsabsichten eine breite und vertiefte Allgemeinbildung, die zur Studierfähigkeit führt.

Dieser erste Satz des Gymnasial-Paragraphen beschreibt seit 1983 die Daseinsberechtigung des Gymnasiums hinsichtlich der ihm zugedachten Gruppe von Schülerinnen und Schülern und dem klaren Ziel der Schule.
Anders als die anderen Schularten geht es nämlich (bisher) beim Gymnasium ganz klar und transparent darum, den Schülerinnen und Schülern eine Bildung angedeihen zu lassen, die zur Studierfähigkeit führt. Weiter heißt es in der Gymnasial-Definition:
„Es fördert insbesondere die Fähigkeiten, theoretische Erkenntnisse nachzuvollziehen, schwierige Sachverhalte geistig zu durchdringen sowie vielschichtige Zusammenhänge zu durchschauen, zu ordnen und verständlich vortragen und darstellen zu können.“

Das ist schon recht eindeutig, sollte man meinen. Wenngleich die aktuelle Zahl der Gymnasial- Empfehlungen vermuten lässt, dass diese Definition bisher nicht allen empfehlenden Grundschul-Lehrkräften in ihrer Konsequenz und Deutlichkeit geläufig war.

Änderung von § 8 Absatz 1

In der nun vorliegenden Änderung liest sich das gänzlich anders. Der neu gefasst Absatz 1 soll das Gymnasium künftig so definieren:

Das Gymnasium vermittelt Schülerinnen und Schülern mit entsprechenden Begabungen und Bildungsabsichten eine breite und vertiefte Allgemeinbildung, die zur Studierfähigkeit, zur fundierten Studienfach- und Berufswahl sowie zur Aufnahme einer beruflichen Ausbildung befähigt.

Im Klartext bedeutet dies, dass neben der Studierfähigkeit auch die unmittelbare Berufswahl oder der Beginn einer Ausbildung nicht nur Möglichkeiten sind, sondern explizit gleichberechtigtes Ziel des Gymnasiums sind.

„Ja und ..?!“, mag sich die eine oder der andere nun fragen. Wenn man sich die aktuelle Statistik anschaut, was junge Erwachsene mit Abitur in der Tasche aktuell so tun, greift hier die geplante Änderung des Paragraphen 8 lediglich den Status quo auf und normalisiert die Realität.

Die neue „Haupt“-Schule ...?

Einmal ganz abgesehen davon, dass der Ge- setzgeber nie gut beraten ist, Gesetze dahinge- hend zu ändern, dass sie die Realität abbilden, sondern eher versucht werden sollte, Inhalt und Idee von Gesetzen durch entsprechendes Handeln auch abzubilden bzw. durchzusetzen, passiert mit der neuen Definition des Gymnasiums genau eines: Das Gymnasium droht zur vermeintlich neuen Schule für alle zu werden, zu einer „Haupt“-Schule eben. Über 50% Gymnasialempfehlungen bereits nach alter Definition geben den Trend klar vor. Wo die meisten hingehen, muss es auch für alle gut sein. Und wenn jegliche Art der Zukunftsgestaltung von Ausbildung über Aufnahme eines Berufs bis zum Studium gleichermaßen und gleichberechtigt zum Sinn des Gymnasiums erklärt werden, muss das Gymnasium folgerichtig also auch für alle die richtige Schule sein.

Sehenden Auges an die Wand

Das ist es aber nicht. Und das soll es bitte auch nicht werden. Ganz im Gegenteil: Diese Neudefinition ist die Festschreibung genau der Konsequenz, die alle – zu Recht – durch die Wiedereinführung von G9 als Schreckensszenario an die Wand gemalt haben. Mache ich das Gymnasium durch ein zusätzliches Schuljahr weniger stressig, werden einige Eltern, deren Kinder eigentlich eine Gymnasialempfehlung haben, die aber bisher eine andere Schulart gewählt hatten, nun ihr Kind auch ans Gymnasium geben. Und einige ohne Gymnasialempfehlung werden dies auch versuchen.

Wenn nun aber der Schulzweck so breit gefasst wird, haben sie gemäß des geplanten neuen § 8(1) des Schulgesetzes auch eine Art gesetzlichen Freibrief dafür. „Wir wollen nicht so viele Kinder auf dem neuen G9, also fassen wir seine Aufgabe einfach breiter“, lautete hier wohl das eher kontraproduktive Credo. Dabei spontan an Schilda zu denken, ist zumindest nicht völlig abwegig.

Abwertung anderer Schularten

Gleichzeitig wird insbesondere den Haupt- und Realschulen, aber ein Stück weit auch den Gemeinschaftsschulen, ihr Alleinstellungsmerkmal genommen. Dadurch wird ein weiteres erklärtes Ziel der Maßnahmen an diesen Schularten, die die Auswirkungen von G9 abfedern sollten, ins Gegenteil verkehrt.

Wenn man nämlich Schularten aufwerten möchte, sollte man ihnen ein klares Profil geben. Durch den neuen Gymnasial-Paragraphen ist aber nun das Alleinstellungsmerkmal der Realschule in der allgemeinen Wahrnehmung höchstens noch „wie das Gymnasium, aber ohne Abitur“.

Berufsorientierung und Vorbereitung auf eine berufliche Ausbildung als essentiell wichtige Bausteine der Sekundarstufe 1 nun in vermeintlich gleicher Qualität und gleichem Umfang auch an Gymnasien anzubieten, droht zu einem fatalen Trugschluss zu werden, der sich in der Öffentlichkeit breitmacht. Und somit könnten auch jene die negativen Auswirkungen spüren, die intensiv für mehr Berufsorientierung an Gymnasien lobbyiert haben.

Durchlässigkeit des Schulsystems?

Wenn man sich jahrelang – zu Recht! – für das sehr gute berufliche Schulwesen im Land und auch für die Durchlässigkeit zwischen den Schularten auf die Brust klopft und auf die Schultern klopfen lässt, stellt sich nun zumindest die Frage, warum man dann so etwas Grundlegendes wie die Gymnasial-Definition auf den Kopf stellen möchte.

Mit den beruflichen Gymnasien haben wir zahlreiche Schulen, die genau das schon seit jeher machen und auch gut machen, was nun auch das allgemeinbildende Gymnasium tun soll. Das Land bietet jeder Schülerin und jedem Schüler, auch den erst später in oder nach der Pubertät durchstartenden, die Möglichkeit, einen Schulweg zu gehen, der – wenn es das denn sein soll – zum Abitur und damit zur Studierfähigkeit führt. Die nun geplante Änderung kann im schlimmsten Fall zu einer Abwertung der gymnasialen Bildung führen. Und damit wäre dann keinem Kind geholfen.

Die Stellungnahme des Landeselternbeirats zur Schulgesetz-Änderung und alle weiteren finden sich auf leb-bw.de/stellungnahmen